Der Stammplatz in meinem Kopf
Über die Performance „Das Flüstern“ von Mbene Mwabene und Bharathi Mayandi Franaszek.

Immer wieder dieselbe Frage.

In meiner Arbeit als Journalist. In Gesprächen mit Freunden. In meinen Gedanken.

Wie können wir über Rassismus sprechen?

Sie hat einen Stammplatz in meinem Kopf. Wie verhandelt man dieses Thema produktiv? Wie bringt man es der deutschen Gesellschaft näher? Wie wird man den Betroffenen gerecht?

Mbene Mwabene sitzt eingesunken auf einem Stuhl, der Kopf tief geneigt, seine Hände liegen schwer auf dem Tisch vor ihm. Minutenlang verharrt er in dieser Pose. Dann beginnt er zu sprechen. Eineinhalb Stunden lang wird er Antworten geben auf meine Frage. Immer wieder neu. Und immer wieder anders.

„Tuta rannte und rannte. Sie rannte, weil sie konnte.“

Mbene erzählt von einer Flucht. Von Tuta, einer Vorfahrin seiner Familie, die in Malawi um ihre Existenz rannte. Die rannte, weil sie konnte. Andere konnten nicht. Sie verloren an diesem Tag entweder ihr Leben oder ihre Menschlichkeit.

„Gefesselt!“

„Verschleppt!“

„Knochen, gebrochen!“

Mbenes Worte schneiden durch die Luft wie eine Peitsche. Da ist keine Kulisse, nur Mbene und ein Tisch und ein Stuhl, aber ich, ich bin in Malawi und werde Zeuge einer Szene, die aus freien Menschen Sklaven gemacht hat. Zigtausende Male hat es diese Momente gegeben. Und vom Stammplatz in meinem Kopf meldet sich die Frage: Wie können wir über Rassismus sprechen?

Und etwas in mir sagt: durch eindrucksvolle Erfahrungsberichte.

„Afrika ist kein geschichtlicher Weltteil, er hat keine Bewegung und Entwicklung aufzuweisen.“

Mbene sitzt still da. Aus den Lautsprechern dröhnen die „Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte“ von Hegel. Ein bedeutendes Werk. Ein rassistisches Werk. Hegel zeichnet das Bild eines wertlosen, unwürdigen Afrika, über dessen Bewohner er sagt:

„Es ist nichts an das Menschliche anklingende in diesem Charakter zu finden.“

Hegels Worte sickern durch den Raum wie Nebel, der sich, Satz für Satz, zu einer schweren Wolke verdichtet. Einer Wolke der Scham. Im deutschen Selbstverständnis ist Hegel eine Ikone. Auch ein Immanuel Kant. Dass diese großen Denker nicht nur Konzepte wie Gewaltenteilung und Menschenrechte hervorbrachten, sondern auch zu den Ideengebern des modernen Rassismus gehören, wissen immer noch viel zu wenige. Und vom Stammplatz in meinem Kopf meldet sich die Frage: Wie können wir über Rassismus sprechen?

Und etwas in mir sagt: durch schonungslose Konfrontation.

„Ich vergebe neue Namen. Kostenlos!“

Mbenes Performance-Partner Bharathi Mayandi Franaszek lässt Kärtchen im Publikum verteilen. Darauf stehen malawische Namen. Mwanga zum Beispiel. Das bedeutet „Licht“. Andere Namen wirken übersetzt weniger Schmeichelhaft, etwa „Schamhaar“ oder „Haferbrei“. Für den Rest der Vorstellung tragen einige der Anwesenden malawische Namen. Begriffe, die für sie fremd klingen.

Mbene war sein eigener Name lange fremd. Jeffrey habe er gehießen. Aber sich nicht wie ein Jeffrey gefühlt. Er ließ den Namen ändern. Ließ ihn ändern, weil er wollte. Viele vor ihm wollten das nicht. Als Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner versklavt wurden, erhielten sie willkürlich neue Namen. Sie hießen dann nicht mehr Mwanga. Eher John.

„Wenn du den Namen eines Menschen änderst, änderst du seine Geschichte.“

Die malawischen Namen huschen durch den Raum wie ein Kätzchen, das verspielt auf Tuchfühlung geht mit einer ausgestreckten Hand. Während einer Performance ein paar Minuten einen neuen Namen zu tragen, kann den Schmerz der dahinter steckenden Wirklichkeit nicht abbilden, in keiner Weise. Aber es kann zumindest eine Idee geben, wie tiefgreifend die Identität von Marginalisierten immer wieder beschnitten wird. Und vom Stammplatz in meinem Kopf meldet sich die Frage: Wie können wir über Rassismus sprechen?
 
Und etwas in mir sagt: durch Vermitteln und Erleben.

„Sie nennen es Fondue. Es stinkt nach Furz.“

Mbene trägt einen Brief vor. An seine Mutter in Malawi. „Mayo“, beginnt er, „dieses Land ist so weiß“. Dann schildert er weiße Normalitäten. Oder aus seiner Sicht: weiße Absurditäten. Warten auf den Weihnachtsmann, Rotwerden vor Nervosität, ständig alles planen wollen, oder schlicht die bayrische Sprache.

„I mog di. Das klingt unzivilisiert.“
 
Mbenes Späße erfrischen den Raum wie eine Brise an einem heißen Sommertag. Es wirkt, als würde Spannung aus den Köpfen weichen und Platz machen für klare Gedanken. Mbene kann diese Witze machen. Er ist schwarz, er tritt „nach oben“. In seinen Worten liegt keine Macht, keine strukturelle Überlegenheit. Eine Weißer dagegen könnte kaum auf dieselbe Weise über schwarze Kultur herziehen. Es ist selten, dass ein Privileg der Gruppe der Marginalisierten vorbehalten ist. Und vom Stammplatz in meinem Kopf meldet sich die Frage: Wie können wir über Rassismus sprechen?

Und etwas in mir sagt: durch selbstermächtigenden Humor.

„Ich nenne dieses Phänomen schwarze Schwerkraft.“

Mbene hat sich umgezogen. Er ist jetzt Doktor und hält einen Vortrag über einen rätselhaften Patienten: Ständig zieht sich der Mann neue Verletzungen zu, wo auch immer er ist. Komisch. Nie ist jemand oder etwas in der Nähe, das für die Knöchelverstauchung, das gebrochene Handgelenk oder den Schädelbasisbruch verantwortlich sein könnte.

Der Doktor folgert: Es muss eine unsichtbare Kraft sein, die den Patienten heimsucht. Eine Kraft, die nur auf Menschen wirkt, die sind wie der Patient: schwarz.
Gespeist sei sie aus „atmosphärischer Geschichte“, aus Jahrhunderten der Unterdrückung, die wie Aerosole in der Luft liegen: Unsichtbar und trotzdem da.

„Ihr Gewicht atmen wir an jedem Tag. An jedem Ort. Es ist eine Kraft, die schwarze Menschen attackiert, sobald sie aus der Haustüre treten.“

Mbenes Geschichte von der schwarzen Schwerkraft schleicht durch den Raum wie ein Flüstern. Wer unter der Fiktion die subtile, elegante Erzählung von strukturellen Rassismus hören will, der muss ein wenig die Ohren spitzen. Dann kann er klar hören, was das Flüstern erzählt. Und vom Stammplatz in meinem Kopf meldet sich die Frage: Wie können wir über Rassismus sprechen?

Und etwas in mir sagt: In vielsagenden Bildern.

„Die Inhalte sitzen wie ein Splitter in meinem Kopf.“

Die Performance „Das Flüstern“ ist vorüber. Oder doch nicht? Alle haben den Saal verlassen, doch draußen formt sich eine Menschentraube um Mbene und Barathi. Es gibt Gesprächsbedarf. Und keine einfachen Antworten.

„Ich verstehe, dass ich vieles nicht verstehe.“

„Lachen ist nicht nur lustig. Es kann auch schmerzhaft sein.“

„Diese Inhalte sitzen wie Splitter in meinem Kopf. Die werden nachwirken.“

Die gemeinsame Reflektion fühlt sich richtig an; fremde Gedanken, die Ordnung schaffen im eigenen Kopf, wie ein Kompass, der den vielen, ambigen Eindrücken der Performance einen Platz gibt. Und vom Stammplatz in meinem Kopf meldet sich die Frage: Wie können wir über Rassismus sprechen?

Und etwas in mir sagt: durch offenen Dialog.
Über die gesamte Dauer des 'Zeltplatz der Zivilisation' verwaltet der überregional bekannte Journalist und Fotograf Philipp Awounou die wichtigsten Postdienste vor Ort. Alles was auf dem Zeltplatz passiert, geht über die Poststelle nach draußen. In persönlichen Briefen, griffigen Telegrammen, ganzen Zeitungsartikeln und mit Fotos begleitet, kommentiert und reflektiert Philipp Awounou das Geschehen. Dadurch bleiben wir nicht nur alle auf dem Laufenden, sondern sind zugleich eingeladen, die eigenen Erlebnisse oder Gedanken in neue Fächer zu sortieren.

Wer regelmäßig aus der Poststelle beliefert werden will, kann die Sendungen unter kontakt@jahrmarkttheater.de abonnieren.
Der Stammplatz in meinem Kopf
Über die Performance „Das Flüstern“ von Mbene Mwabene und Bharathi Mayandi Franaszek.

Immer wieder dieselbe Frage.

In meiner Arbeit als Journalist. In Gesprächen mit Freunden. In meinen Gedanken.

Wie können wir über Rassismus sprechen?

Sie hat einen Stammplatz in meinem Kopf. Wie verhandelt man dieses Thema produktiv? Wie bringt man es der deutschen Gesellschaft näher? Wie wird man den Betroffenen gerecht?

Mbene Mwabene sitzt eingesunken auf einem Stuhl, der Kopf tief geneigt, seine Hände liegen schwer auf dem Tisch vor ihm. Minutenlang verharrt er in dieser Pose. Dann beginnt er zu sprechen. Eineinhalb Stunden lang wird er Antworten geben auf meine Frage. Immer wieder neu. Und immer wieder anders.

„Tuta rannte und rannte. Sie rannte, weil sie konnte.“

Mbene erzählt von einer Flucht. Von Tuta, einer Vorfahrin seiner Familie, die in Malawi um ihre Existenz rannte. Die rannte, weil sie konnte. Andere konnten nicht. Sie verloren an diesem Tag entweder ihr Leben oder ihre Menschlichkeit.

„Gefesselt!“

„Verschleppt!“

„Knochen, gebrochen!“

Mbenes Worte schneiden durch die Luft wie eine Peitsche. Da ist keine Kulisse, nur Mbene und ein Tisch und ein Stuhl, aber ich, ich bin in Malawi und werde Zeuge einer Szene, die aus freien Menschen Sklaven gemacht hat. Zigtausende Male hat es diese Momente gegeben. Und vom Stammplatz in meinem Kopf meldet sich die Frage: Wie können wir über Rassismus sprechen?

Und etwas in mir sagt: durch eindrucksvolle Erfahrungsberichte.

„Afrika ist kein geschichtlicher Weltteil, er hat keine Bewegung und Entwicklung aufzuweisen.“

Mbene sitzt still da. Aus den Lautsprechern dröhnen die „Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte“ von Hegel. Ein bedeutendes Werk. Ein rassistisches Werk. Hegel zeichnet das Bild eines wertlosen, unwürdigen Afrika, über dessen Bewohner er sagt:

„Es ist nichts an das Menschliche anklingende in diesem Charakter zu finden.“

Hegels Worte sickern durch den Raum wie Nebel, der sich, Satz für Satz, zu einer schweren Wolke verdichtet. Einer Wolke der Scham. Im deutschen Selbstverständnis ist Hegel eine Ikone. Auch ein Immanuel Kant. Dass diese großen Denker nicht nur Konzepte wie Gewaltenteilung und Menschenrechte hervorbrachten, sondern auch zu den Ideengebern des modernen Rassismus gehören, wissen immer noch viel zu wenige. Und vom Stammplatz in meinem Kopf meldet sich die Frage: Wie können wir über Rassismus sprechen?

Und etwas in mir sagt: durch schonungslose Konfrontation.

„Ich vergebe neue Namen. Kostenlos!“

Mbenes Performance-Partner Bharathi Mayandi Franaszek lässt Kärtchen im Publikum verteilen. Darauf stehen malawische Namen. Mwanga zum Beispiel. Das bedeutet „Licht“. Andere Namen wirken übersetzt weniger Schmeichelhaft, etwa „Schamhaar“ oder „Haferbrei“. Für den Rest der Vorstellung tragen einige der Anwesenden malawische Namen. Begriffe, die für sie fremd klingen.

Mbene war sein eigener Name lange fremd. Jeffrey habe er gehießen. Aber sich nicht wie ein Jeffrey gefühlt. Er ließ den Namen ändern. Ließ ihn ändern, weil er wollte. Viele vor ihm wollten das nicht. Als Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner versklavt wurden, erhielten sie willkürlich neue Namen. Sie hießen dann nicht mehr Mwanga. Eher John.

„Wenn du den Namen eines Menschen änderst, änderst du seine Geschichte.“

Die malawischen Namen huschen durch den Raum wie ein Kätzchen, das verspielt auf Tuchfühlung geht mit einer ausgestreckten Hand. Während einer Performance ein paar Minuten einen neuen Namen zu tragen, kann den Schmerz der dahinter steckenden Wirklichkeit nicht abbilden, in keiner Weise. Aber es kann zumindest eine Idee geben, wie tiefgreifend die Identität von Marginalisierten immer wieder beschnitten wird. Und vom Stammplatz in meinem Kopf meldet sich die Frage: Wie können wir über Rassismus sprechen?
 
Und etwas in mir sagt: durch Vermitteln und Erleben.

„Sie nennen es Fondue. Es stinkt nach Furz.“

Mbene trägt einen Brief vor. An seine Mutter in Malawi. „Mayo“, beginnt er, „dieses Land ist so weiß“. Dann schildert er weiße Normalitäten. Oder aus seiner Sicht: weiße Absurditäten. Warten auf den Weihnachtsmann, Rotwerden vor Nervosität, ständig alles planen wollen, oder schlicht die bayrische Sprache.

„I mog di. Das klingt unzivilisiert.“
 
Mbenes Späße erfrischen den Raum wie eine Brise an einem heißen Sommertag. Es wirkt, als würde Spannung aus den Köpfen weichen und Platz machen für klare Gedanken. Mbene kann diese Witze machen. Er ist schwarz, er tritt „nach oben“. In seinen Worten liegt keine Macht, keine strukturelle Überlegenheit. Eine Weißer dagegen könnte kaum auf dieselbe Weise über schwarze Kultur herziehen. Es ist selten, dass ein Privileg der Gruppe der Marginalisierten vorbehalten ist. Und vom Stammplatz in meinem Kopf meldet sich die Frage: Wie können wir über Rassismus sprechen?

Und etwas in mir sagt: durch selbstermächtigenden Humor.

„Ich nenne dieses Phänomen schwarze Schwerkraft.“

Mbene hat sich umgezogen. Er ist jetzt Doktor und hält einen Vortrag über einen rätselhaften Patienten: Ständig zieht sich der Mann neue Verletzungen zu, wo auch immer er ist. Komisch. Nie ist jemand oder etwas in der Nähe, das für die Knöchelverstauchung, das gebrochene Handgelenk oder den Schädelbasisbruch verantwortlich sein könnte.

Der Doktor folgert: Es muss eine unsichtbare Kraft sein, die den Patienten heimsucht. Eine Kraft, die nur auf Menschen wirkt, die sind wie der Patient: schwarz.
Gespeist sei sie aus „atmosphärischer Geschichte“, aus Jahrhunderten der Unterdrückung, die wie Aerosole in der Luft liegen: Unsichtbar und trotzdem da.

„Ihr Gewicht atmen wir an jedem Tag. An jedem Ort. Es ist eine Kraft, die schwarze Menschen attackiert, sobald sie aus der Haustüre treten.“

Mbenes Geschichte von der schwarzen Schwerkraft schleicht durch den Raum wie ein Flüstern. Wer unter der Fiktion die subtile, elegante Erzählung von strukturellen Rassismus hören will, der muss ein wenig die Ohren spitzen. Dann kann er klar hören, was das Flüstern erzählt. Und vom Stammplatz in meinem Kopf meldet sich die Frage: Wie können wir über Rassismus sprechen?

Und etwas in mir sagt: In vielsagenden Bildern.

„Die Inhalte sitzen wie ein Splitter in meinem Kopf.“

Die Performance „Das Flüstern“ ist vorüber. Oder doch nicht? Alle haben den Saal verlassen, doch draußen formt sich eine Menschentraube um Mbene und Barathi. Es gibt Gesprächsbedarf. Und keine einfachen Antworten.

„Ich verstehe, dass ich vieles nicht verstehe.“

„Lachen ist nicht nur lustig. Es kann auch schmerzhaft sein.“

„Diese Inhalte sitzen wie Splitter in meinem Kopf. Die werden nachwirken.“

Die gemeinsame Reflektion fühlt sich richtig an; fremde Gedanken, die Ordnung schaffen im eigenen Kopf, wie ein Kompass, der den vielen, ambigen Eindrücken der Performance einen Platz gibt. Und vom Stammplatz in meinem Kopf meldet sich die Frage: Wie können wir über Rassismus sprechen?

Und etwas in mir sagt: durch offenen Dialog.
Über die gesamte Dauer des 'Zeltplatz der Zivilisation' verwaltet der überregional bekannte Journalist und Fotograf Philipp Awounou die wichtigsten Postdienste vor Ort. Alles was auf dem Zeltplatz passiert, geht über die Poststelle nach draußen. In persönlichen Briefen, griffigen Telegrammen, ganzen Zeitungsartikeln und mit Fotos begleitet, kommentiert und reflektiert Philipp Awounou das Geschehen. Dadurch bleiben wir nicht nur alle auf dem Laufenden, sondern sind zugleich eingeladen, die eigenen Erlebnisse oder Gedanken in neue Fächer zu sortieren.

Wer regelmäßig aus der Poststelle beliefert werden will, kann die Sendungen unter kontakt@jahrmarkttheater.de abonnieren.